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Veranstaltungen, Wissenschaftstheorie und kritisches Denken

Ganzheitlichkeit

Also, das war ja ohnehin klar, steht ja in den Sternen, und die Leute mit guten Antennen haben das sowieso längst gefühlt:
Ich bin der Tollste und Beste, ich weiß alles! Ich bin Trumps großer Bruder!
Ich bin nicht nur der Ozean der Weisheit, ich bin das ganze Universum der Weisheit, und darüber hinaus!
Ich kenne die Physik, die komplette Physik! Und die Metaphysik, und die Physik hinter der Metaphysik!
Und die Psychologie! Den Mensch, alle anderen Tiere, die Pflanzen, Bakterien, Flechten, Elfen, Gnome, Wichtel… alle weiß ich in- und auswendig!
Ich kenne das Mögliche und Unmögliche, ich bin quasi komplett, eine Lichtgestalt…
Oh Yeahhh! Wollt ihr mir was abkaufen?…

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Leute, jetzt mal im Ernst!?
Würde mir irgend Jemand so etwas abkaufen?
Jemand der meint alles zu wissen?
Ein Produkt zu verkaufen, auf Basis eines kompletten Weltverständnisses?
Das alle Faktoren kennt und entsprechend integriert, um dir das Allerbeste zu verscherbeln!?
Etwas, das so umfassend ist, dass ihr das sowieso nur noch auf der“Gefühlsebene“ erfassen könnt?…
Hey! Würdet ihr einer Person, die das behauptet, auch nur einen Meter weit trauen?

Und doch gibt es eine ganze Industrie, die so argumentiert!
Es ist die Industrie der Esoterik, die Industrie der Ganzheitlichkeit!

Unendlich viele Faktoren?

Jetzt überlegen wir mal gemeinsam, wie wir so im Alltag zu sinnvollen Entscheidungen kommen: Angenommen, wir brauchen irgendein neues Gerät, zum Beispiel ein Auto, oder einen Fernseher, Computer, vollkommen egal. Wie entscheiden wir uns? Im Prinzip legen wir uns immer eine Liste an Kriterien zurecht: Wie groß, wie schnell, wie hübsch, wie nachhaltig, wie preisgünstig. Und durch das Abwägen und Bewerten kommen wir irgendwann zu einem Ergebnis.
Eigentlich ist es immer dieses System:
Kriterien werden vorher festgelegt, dann kann man hernach das beste Produkt oder die beste Dienstleistung auswählen. Ganz ähnlich funktioniert das auch, wenn Wissenschaftler Versuche und Studien machen, wenn ein Arbeitgeber einen neuen Mitarbeiter sucht, wenn der Staat neues Klopapier ordert, oder ein neues Schulgebäude, oder einen neuen Panzer ausschreibt…
(sollte zumindest so sein, manchmal versucht man sich da darüber hinweg zu setzen, egal ob´s jetzt im Dorf ist, oder in der großen Politik…).

Und jetzt gibt es Leute die hergehen, und behaupten: Wir brauchen keine Kriterien!
Wir sind „ganzheitlich“, wir haben einfach alles, also das „GroßeGanze“ (TM), im Blick…
Sagt mal, wie bescheuert ist das eigentlich?

Medizin und Ökologie.

Also, eigentlich dürften wir uns einig sein, dass eine allumfassende Analyse mit allen Kriterien unmöglich ist. Im Prinzip ist sie auch unnötig, in der Regel dürften bei den allermeisten Entscheidungen einige ganz wenige Punkte ausreichen.
Mit am Einfachsten ist das in den allermeisten Fällen in der Medizin: „Macht´s  gesund oder nicht?“ Ein einziges Kriterium!
Das Argument „ganzheitlich“ soll da ganz offensichtlich genau diesen konkreten Zusammenhang torpedieren, um die Kassen irgendwelcher Schwurbler zu füllen! Was erwiesener Maßen nicht wirkt, wäre plötzlich „ganzheitlich“, und somit wieder im Spiel… (Beispiel aus Traunstein)
Das beste Beispiel ist aber mal wieder die Homöopathie: Ein Fake, aber trotzdem so erfolgreich, weil sich viele Leute im Angesicht manch leidvoller Unsicherheit so furchtbar „abgeholt“ fühlen.
… Immerhin ist die Homöopathie aber noch humaner als die Ideen der Anthroposophie: In dieser Ideologie ist das Überleben selbst ja oft schon kein Kriterium mehr.

In der Ökologie ist das alles viel schwieriger als in der Medizin. Die Zahl der Kriterien und das Aufwiegen gegeneinander ist komplexer: Das Risiko der Atomkraft gegen den CO2 von Gaskraftwerken aufzurechnen, ist schwer, zumindest kurzfristig nicht eindeutig.
Oder die Sinnhaftigkeit mancher sogenannter „biologischen“ Landwirtschaft, angesichts von Bevölkerungswachstum, Schadstoffeintrag und Umweltschutz. (aktuell sind ja wieder Giftstoffe in den „guten“ Kinder-Bio-Tees…). Und ob „Bio“ überhaupt ökologisch ist, steht in der „spirituellen“ Borniertheit vieler Leute überhaupt nicht in Frage. Ich habe da aber schon meine Zweifel, und kann mich darüber ärgern, dass man das kaum mehr wissenschaftlich aufarbeitet.
Wobei wir uns somit der argumentativen Ausflucht des Ganzheits-Themas nähern, der „Spiritualität“.

Intuition, Göttliche Eingebung…

„Ganzheitlichkeit“ ist, wie gesagt, prinzipiell unmöglich.
Den Ausweg für die Leute, die das trotzdem behaupten, bietet die Religion und die Esoterik: „Geistartige Kräfte“ (Homöopathie…), Vorsehung und göttliche Eingebung, Stimmen von Geistern, Elfen, Einhörnern oder überhaupt ganze reinkarnierte Jesusse. Bezüge auf die, Astrologie und andere  Orakelmethoden sollen „höheres Wissen“ andeuten. Wissen, das über den Erkenntnissen der Wissenschaft stünde.

Üblicher Weise argumentiert man allerdings über die „Intuition“, mit der gerne dieses ganze Brimborium zusammengefasst wird. Deshalb habe ich schon vorausgehend darüber einen Artikel geschrieben.

Die Quintessenz: Die Idee, dass die Intuition eine Art göttliche Eingebung oder ein Tor ins Übersinnliche wäre, ist kompletter Unsinn! Intuition sind erlernte Vorurteile, oft auch mit diversen Ängsten vermischt, die nicht an die bewusste Oberfläche kommen. Die nebenbei auch noch massiv manipulierbar sind.
Wie das alles funktioniert, habe ich umfänglich ausgeführt.

Omnipräsent ist für diese intuitive „Ganzheitlichkeit“ auch die Angst vor dem Fremden: Die Illusion von der harmonischen Ur-Gemeinschaft, die von bösen Mächten gestört und aufgelöst werden soll, ist ein Bild, das  bei den Grünen genauso auftaucht, wie bei den anderen „Alternativen“, der AfD, der Bayernpartei oder den Reichsbürgern … (Kein Wunder, wenn sich Leute innerhalb dieser Gruppe umorientieren).
Diese nostalgisch-illusorische Ordnung ist es, die für die „Ganzheitlichen“ die göttliche Vollkommenheit darstellt, daher sind die braunen Untertöne in der Geschichte der Ganzheitlichkeit auch nicht zufällig.

Geschichtlicher Umriss

Die moderne Idee der Ganzheitlichkeit geht auf die Kulturpessimisten Paul de Lagarde (1827-1891) und Julius Langbein (1851-1907) zurück. Ich zitiere aus dem Buch „Über alles in der Welt – Esoterik als Leitkultur“ von Claudia Barth:

„Unter dem Begriff Kulturpessimismus werden Tendenzen zusammen gefasst, die ein rational begründetes mechanisches Weltbild als unzulänglich angreifen und zugunsten mythischer Welterklärungsmuster ablehnen. …
… Paul de Lagarde gilt als Vordenker des oben skizzierten organisch-völkischen Weltbildes. In Lagarde verbindet sich der irrationale Angriff gegen die Moderne mit völkisch-rassistischen Gedankengut. Er prägte den Begriff der Ganzheitlichkeit, womit vor allem Erkenntnisgewinnung durch Intuition gemeint ist. Den Kern des Menschen verordnete er im Willen, den er gegen den Verstand setzt. (Ein vitalistisches Gedankengut, das später von Adolf Hitler aufgegriffen wurde.) Im jüdischen Volk sah er den Schöpfer des Materialismus, Liberalismus, Rationalismus und Marxismus. Er nannte es „Träger der Verwesung“, „schweres Unglück“ für jedes andere Volk, mit dem nicht verhandelt werden könne, sondern das „so gründlich wie möglich vernichtet werden müsse“
Julius Langbein widmete sich hauptsächlich Fragen der Erziehung. Langbein war Antisemit, Befürworter großdeutscher Bestrebungen, glühender Anhänger der Rohkostbewegung und Verfechter intuitiv-hypnotischer Heilmethoden als Alternative zur Schulmedizin. „Herzensbildung“ solle an Stelle der „Verstandesbildung“ treten.

…was danach passiert ist, wissen wir ja. Es ist das, was wir heute als Fake-News oder „alternative Wahrheiten“ bezeichnen würden. Erspürt, ohne Realitätsbasis!
Die Denkrichtung klingt in Zeiten von Donald Trump, Andreas Hofer, Strache, Björn Höcke  wieder erschreckend aktuell.

Die Geschichte der Ganzheitlichkeit wird ganz „intuitiv“ im Sinne von Lagarde und Langbein im dritten Reich weiter geführt: die Juden wurden vernichtet, und die ganze esoterische Pseudo-Medizin  als „Neue deutsche Heilkunde“ in die medizinische Versorgung integriert – als Kontra zur „verjudeten Schulmedizin“.

…wer nun hofft, es hätte nach 1945 irgendwelche Revisionen gegeben, der irrt!
Der Wiederaufbau hatte noch gar nicht begonnen, da formierten sich nationalsozialistische Ärzte zu einem neuen Ganzheits-Verein, die Ursprünge sind sogar hier aus der Gegend. Wikipedia:
Nach 1945 galten Schlagwörter wie „biologische Medizin“, „Synthese von Hochschulmedizin und Naturheilkunde“ oder gar „Neue Deutsche Heilkunde“ als politisch stark vorbelastet. Dies traf auf „Ganzheitsmedizin“ offensichtlich nicht zu. Mit dieser Vokabel wurde versucht, eine desavouierte Strömung in der Medizin wieder salonfähig zu machen. Dabei gab es erstaunliche personelle Kontinuitäten. 1949 führte Werner Zabel, der Hitlers Leibarzt Theo Morell als Diätberater zur Verfügung gestanden hatte, in Berchtesgaden im Auftrag der „Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern“ „Fortbildungskurse für Ganzheitsmedizin“ durch, und veröffentlichte in der Zeitschrift „Hippokrates“ einen Aufsatz „Weiterbildung zur Ganzheitsmedizin“. Karl Kötschau, der in den 1930er Jahren als Prodekan der Medizinischen Fakultät „Jena zur Kampfuniversität für ganzheitliches Denken“ machen wollte, und 1935 vom Reichsärzteführer zum Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ bestimmt wurde, propagierte in den 1950er und 1960er Jahren eine „Ganzheitsmedizin“, deren Fundamente aus Homöopathie, Naturheilkunde, Akupunktur und Psychotherapie bestehen sollten.[4]
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Ganzheitliche_Medizin

Die  Ganzheitlichkeit als „alternative Realität“ – und Fake-News

Die westliche Zivilisation hat nach Lagarde praktisch nie den Terminus „Ganzheitlichkeit“ auf den Prüfstand gestellt. Statt dessen hat ihn jeder mit seinen persönlichen Vorurteilen gefüllt.  Zu sexy war die Idee, Wahrheit aus einem Selbst heraus schöpfen zu können, ohne die Welt da draußen betrachten und analysieren zu müssen! Die Pflege der eigenen Vorurteile!

Heute zeichnet sich genau deshalb ein Desaster in der Politik ab:
Der Präsident der USA sperrt Leute ohne jeden nachweisbaren Grund aus, indem er im Volk instinktive Ängste mobilisiert.
Herr Erdogan schenkt  fünf Sechstel der Türken ein wohltuendes Zusammengehörigkeitsgefühl, indem er  Jagd auf ein Sechstel seiner Bevölkerung macht, die er zu Terroristen umdeutet – und in diesem Tumult schafft er gleich noch die türkische Demokratie ab.
Beide und viele andere mächtige Leute leugnen die für unser aller Überleben so wichtigen wissenschaftlichen Basics, wie den Klimawandel und die Evolutionstheorie – aus einem religiösen Denken heraus.
Putins Kreml unterhält mit „Russia Today“ einen eigenen deutschsprachigen Fake-News-Sender, in denen sie jede erdenkliche Verschwörungstheorie zelebrieren. Gleichzeitig macht man in Russland Jagd auf Homosexuelle, um der christlich-orthodoxen Volksseele Genugtuung zu verschaffen.
Irrationale Feindbilder und Verschwörungstheorien werden heraufbeschworen, und geglaubt, auch wenn das Gegenteil längst bewiesen ist: „Alternative Fakten“.
Vielleicht war das den Leuten früher noch ein bisschen mehr peinlich, wenn man sie beim bescheißen erwischt hat. In dem heutigen Umfeld der „multiplen Wahrheiten“ wird fehlende Kongruenz einfach debil lächelnd wegingnoriert… („I do it my way“, wer sich noch an diese Inaugurationsfeier erinnern kann…)

Wenn man 150 Jahre lang, wie in Deutschland und andernorts, als Gesellschaft intuitive Pseudowahrheiten kultiviert, sogar als „Ganzheitlich“ adelt, dann braucht man sich über den Verfall in der Politik nicht zu wundern.
Die Idee von der intuitiven,  kritikunfähigen, weil komplett irrationalen Ganzheitlichkeit hat Deutschland und den Rest der Welt schon einmal 6 Jahre lang in einen erbarmungslosen Krieg geführt, und wir wollen hoffen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Dazu müssen wir gegen diese spirituellen Seelenfänger mit erneuerter Vernunft  entgegen treten. Anfänge werden gemacht…

Fazit!

Wer mit „Ganzheitlichkeit“ argumentiert, ist  immer unseriös!
Er verspricht damit etwas, was er grundsätzlich nicht halten kann. Was grundsätzlich ja nicht haltbar ist! 

Um es mal allgemein verständlich auszudrücken: In dem Moment, wo der Mensch neben Dir auf diese pauschale Ebene ausweicht, kann man sich sicher sein, dass das Anschließende  keinen Wert mehr hat!
Man weiß, dass ab da eigentlich nur noch Scheiße gelabert wird.

Mittlerweile, durch das allgemeine Entsetzen, durch die getwitterten“alternativen Fakten„, erkennt auch die Wissenschaft vermehrt, dass etwas getan werden muss.
Am 22. April, am „Earth-Day“ werden weltweit Wissenschaftler und Wissenschafts-affine  Leute im Rahmen des „Science March“  auf die Straße gehen, um für eine bessere Welt zu protestieren:
„Kritisches Denken und fundiertes Urteilen setzt voraus, dass es verlässliche Kriterien gibt, die es erlauben, die Wertigkeit von Informationen einzuordnen. Die gründliche Erforschung unserer Welt und die anschließende Einordnung der Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, ist die Aufgabe von Wissenschaft. Wenn jedoch wissenschaftlich erwiesene Tatsachen geleugnet, relativiert oder lediglich „alternativen Fakten“ als gleichwertig gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen, wird jedem konstruktiven Dialog die Basis entzogen“

 

 

Zum weiter lesen:

Kongress der Ganzheitsmedizin: http://blog.gwup.net/2015/12/03/gefahrliche-pseudo-medizin-im-br-jetzt-als-video/

von Stereotypen beeinflusst: http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-20144-2016-05-03.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+scinexx+%28scinexx+|+Das+Wissensmagazin%29

http://www.welt.de/print/wams/wissen/article154910567/Die-Republik-der-Heiler.html

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Chiemgauer

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